
Benutzer155480 (42)
Sehr bekannt hier
- #1
Guten Tag allerseits,
als ich mich vor einigen Wochen entschloss, mich selbst aufgrund einer tiefen Depression, verbunden mit Ängsten und Suizidgedanken, in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, gingen mir viele Dinge durch den Kopf. Wie würde man mich dort behandeln? Würde ich unter Zwang Dinge tun müssen, die ich nicht möchte? Wie streng sind die Regeln in so einer Klinik? Und überhaupt, was für Menschen gehen freiwillig in die Psychiatrie?
Zunächst stellte ich fest, dass es zwei sehr unterschiedliche Bereich in der Klinik gibt, die ich mir ausgesucht hatte. Zum einen gab des die sog. 'geschützte Station', wo die Menschen in Behandlung sind, die eine Gefährdung für sich selbst oder andere Menschen darstellen. Von dieser Station habe ich außer dem täglichen Blick hinab in deren Garten überhaupt nichts mitbekommen.
Und dann gab es noch den Bereich, in dem ich untergebracht wurde. Ein offener Bereich, in dem dennoch feste Regeln galten, um die Gesundheit und das Wohlergehen der Patienten zu garantieren. Morgens und Abends gab es eine bestimmte Uhrzeit, zu der ich mich beim Pflegedienst melden musste. Bei jeder Mahlzeit musste ich mich einstempeln, damit auf diese Weise kontrolliert werden konnte, ob ich anwesend war oder nicht. (Und ja, natürlich hat man sich hie und da einfach eingestempelt und ist dann mit Freunden Pizza essen gefahren). Nachtruhe war immer um 22.30 Uhr, die auch meist eingehalten wurde - nur bei den EM-Spielen wurde eine Ausnahme gemacht.
Am Tag meiner Ankunft hatte ich bereits den ersten Termin mit meiner behandelnden Ärztin. Sie nahm sich viel Zeit für mich, hörte mir zu und stellte dann auch direkt die Frage, ob ich darüber nachgedacht hätte, ob ich Medikamte nehmen wolle. Als ich mich unentschlossen zeigte, respektierte sie meinen Wunsch ohne zu Zögern und erst in der dritten Woche, als ich schlechter zu schlafen begann, verschrieb sie mir eine sog. Bedarfmedikation - etwas, das ich nehmen konnte, aber nicht musste.
In den Tagen darauf gab es weitere medizinische Untersuchungen, Blutabnahme und EKG, die im klinikeigenen Labor durchgeführt wurden.
In der ersten Woche bekam ich meine Einweisungen in den Sportbereich der Klinik. Da ich in diesen Tagen noch kein Therapieprogramm hatte, habe ich natürlich sofort die Chance genutzt und viel Sport gemacht: mit dem Erfolg, dass bereits nach dem vierten Tag eine erneute Arztvisite angesetzt wurde, in der die Ärztin mich bat, es nicht zu übertreiben. Auf diese Weise wurde mir klar, wie gut vernetzt Ärzte, Pflegedienst und Fachabteilungen sind. Zwar nicht immer perfekt - gerade in der Urlaubszeit wurde viel mit Vertretungen gearbeitet -, aber ich konnte überall den guten Willen spüren, auf den Patienten zu achten.
Ab der zweiten Woche liefen meine Therapien an. Ergotherapie, Sporttherapie, Einzeltherapie, Gruppentherapie und konzentrative Bewegungstherapie. Gerade Letzteres gab mir zunächst Rätsel auf und ich fragte mich selbst, was ich denn in einer Gruppe lernen sollte, in der es darum geht, meditativ seinen Körper, seine Gefühle und seine Gedanken wahrzunehmen und dann seine Empfindungen mit Hilfe von Gegenständen (vom Plüschaffen bis zum Springseil war alles da) darzustellen und zu erklären. Doch gerade diese Gruppe war es, die mich emotional am schnellsten knackte und mich merken ließ, dass mein Bauchgefühl, mein Selbstwert und meine körperliche Eigenwahrnehmung total kaputt waren. Erst in der achtsamen Beschäftigung mit mir selbst merkte ich, wie sehr mein Körper schmerzte und wie turbulent die Gefühle Achterbahn fuhren.
Die dritte Woche war deswegen ganz furchtbar. In allen Therapien kamen immer mehr Dinge zum Vorschein, die ich lange verschüttet geglaubt hatte - und die ich auch ganz aktiv verschüttet hatte. Meine Unfähigkeit, Freundschaften zu führen, meine unregulierte Emotionalität, mein Selbsthass, mein Glaube, dass ich nur mit Leistung etwas wert bin, meine Unfähigkeit zur Selbstabgrenzung und zum Nein-Sagen, meine Jugend mit dem schweren Mobbing, dem selbstverletzenden Verhalten und nicht zuletzt der Konflikt mit meiner Mutter, der bis heute nicht geklärt ist und mich vermutlich bis zu meinem Lebensende begleiten wird. Mir tat seelisch und körperlich alles weh in dieser Woche. Es war wirklich furchtbar, ich habe jeden Tag geweint und geflucht. Aber sowohl meine Bezugspflegerin als auch meine Therapeuten waren für mich da, trösteten, inspirierten und motivierten mich, weiterzumachen.
Ich glaube man kommt in jeder gut laufenden Therapie an den Punkt, an dem alles gesagt ist, alles offen liegt, man sich wund und verletzlich fühlt. Aber das ist auch der Punkt, an dem man aus den Trümmern wieder aufbauen kann. Deswegen ist Therapie echt harte Arbeit und man muss den unbedingten Willen mitbringen, sich auf alles einzulassen. Wenn man das nicht mitbringt, wenn das Verhältnis zu den Therapeuten nicht stimmen, dann macht es in meinen Augen keinen Sinn.
Ab der vierten Woche wurde alles besser. Ich fand durch die Ergotherapie wieder Freude am Malen, ich saß viel im Garten, erfreute mich an der Natur, las wieder und hörte wieder Musik - Dinge, die in der Depression verloren gegangen waren. Natürlich gab es hie und da noch emotionale Einbrüche und miese Tage. Aber sie wurden zusehends weniger. Alles, was in meinem Leben vorher als Muss erschienen war, war auf einmal im Fluß: Job, Beziehung, Freundschaften. Ich nahm mir vor, all diese Dinge nochmal neu zu bewerten, nun, da ich langsam begriff, dass es in meinem Leben nur darauf ankommt, was mich glücklich macht.
Oft hört man, dass Leute ihr Leben total umkrempeln, wenn sie aus der Psychiatrie kommen. Ich kann das nun recht gut verstehen, auch wenn ich beschlossen habe, dass riesige Schritte wie eine Kündigung oder eine Trennung definitiv der falsche Weg sind, da ich noch immer krank bin und erstmal in Ruhe gesunden muss. Was ich aber machen kann, ist eine Politik der kleinen Schritte: Entscheidungen erst einmal in Ruhe bedenken, bevor ich sie treffe, weil mein Bauchgefühl ja noch immer kaputt ist. Nein-Sagen üben im Alltag (puh, gar nicht so einfach). Meine Wohnung umgestalten und mir einen Ort schaffen, wo ich mich entspannt und sicher fühle. Regelmäßig Sport treiben und zur Massage gehen. Nicht direkt in die Luft gehen, wenn Menschen Dinge anders anpacken, als ich es tun würde.
In der fünften Woche gab mir meine Einzeltherapeutin zum ersten Mal das Wort "Borderline" mit auf den Weg und informierte mich über diese Art der Persönlichkeitsstörung. Sie zeigte mir an einige Beispielen auf, dass diese Diagnose in vielen Bereichen meines Lebens zuträfe, sagte aber direkt, dass ich in ganz vielen anderen Bereichen eben wenig bis gar keine typischen Anzeichen zeigen würde. Eine 'Akzentuierung' nannte sie es. Ich beschloss, mich zu informieren und las einige medizinische Fachartikel zum Thema. Tatsächlich fand ich mich im Borderline wieder und ich fühlte, wie mir ein riesiger Stein vom Herzen fiel. Da war sie, eine Erklärung für so viele Dinge, die falsch liefen und die ich erst in den Wochen in der Klinik so richtig begriffen und beleuchtet hatte: die emotionale Leere in mir, die Selbstverletzungen, das Gefühl, fett und hässlich zu sein, obwohl mir alle etwas Anderes sagen, die unkontrollierten Wutausbrüche, das rauschartige Einkaufen oder Essen, die schwierigen Freundschaften, die kritische Berufswahl.
Ich war angekommen. Irgendwo in mir, wo etwas seit meinen Kindertagen etwas kaputt ist. Ich wußte jetzt endlich, dass es eine Störung ist, eine Erkrankung. Die kam, weil mir im Lauf der Kindheit so viele schlimme Dinge geschehen sind und nicht, weil ich ein weinerliches, mieses Riesenarschloch bin. Ich bin kein schlechter Mensch. Ich lief zwei Tage mit einem riesigen Grinsen herum, bis ich dann etwas begriff: die Erkenntnis ist erst der Anfang. Borderline ist für mich eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Jetzt, wo ich weiß, wo meine Defizite und Schwäche liegen, wo meine Ängste herkommen und wo ich seelisch wackele, ist es meine Aufgabe, das alles anzupacken. Langsam und mit kritischem Blick für meine eigenen Kräfte. Das schulde ich mir selbst und meinem absoluten Willen, ein glückliches und langes Leben zu führen. Es gibt viel zu tun....essen wir nen Keks und packen es an
Seit einigen Tagen bin ich wieder zuhause. Die letzten Tage vor der Entlassung waren sehr wehmütig. Ich hatte einige Mitpatienten sehr liebgewonnen, ich mochte den festen Tagesablauf der Klinik, das leckere Essen und schlichtweg das Gefühl, dass sich jemand um mich kümmert, wo ich mich doch mein ganzes Leben immer zuerst um Andere gekümmert habe. Die Zweifel waren groß - ob ich im Alltag umsetzen kann, was ich in der Klinik erkannt habe? Wie wohl mein Umfeld reagieren wird, wenn es erfährt, dass ich in der Psychiatrie war?
(Meine Mutter kann das Wort "Psychiatrie" übrigens nicht aussprechen. Sie sagt ich sei "unterwegs gewesen". Vor der Klinik hätte mich das irgendwie verletzt, inzwischen denke ich, dass sie eben auch so jemand ist wie ich - sie kann nicht aus ihrer Haut. Im Gegensatz zu mir hat sie es allerdings auch nie versucht.)
Ich gehe jetzt im Freundes- und Kollegenkreis recht offen damit um, dass ich in der Klinik war. Mein Vater hat Bedenken, dass mich niemand mehr einstellen würde, wenn bekannt wird, dass ich psychisch angeschlagen bin. Ich sehe das aber lockerer. Für jemanden, der nicht begreift, dass eine psychische Erkrankung eben genau das ist - eine Krankheit, die jeden treffen kann - , möchte ich auch nicht arbeiten.
Und gerade durch meine Offenheit habe ich viel Unterstützung in Bereichen erfahren, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Die Masse an Nachrichten in sozialen Netzwerken, Mails und Anrufen, die mich aufbauen und Ratschläge enthalten und die vielen guten Gespräche mit Leuten, die ebenso klar von ihren Problemen berichteten wie ich, überraschen mich und tragen mich heute auf meinem Weg weiter.
Eine Depression kann jeden treffen. Manche etwas leichter, weil sie instabil sind und es ihnen an Resilienzen fehlte. Manche schwerer. Aber sie ist in keinem Fall etwas, für das man sich schämen muss. Wichtig ist, dass man darüber redet. Mit der Familie, dem Partner, Vertrauenslehrern, Therapeuten, Freunden. Nur dem, der mit der Sprache das Innere nach Außen bringt, kann geholfen werden.
Und sollte es Euch mal so schlecht gehen, dass Ihr an Eurem Leben zweifelt, dann zögert nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Beginnt eine Therapie, denkt über Medikamente nach und geht notfalls in eine Klinik, wie ich es getan habe. Eine bessere Investition in Euer wertvollstes Gut - in Euch selbst - kann es gar nicht geben.
als ich mich vor einigen Wochen entschloss, mich selbst aufgrund einer tiefen Depression, verbunden mit Ängsten und Suizidgedanken, in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, gingen mir viele Dinge durch den Kopf. Wie würde man mich dort behandeln? Würde ich unter Zwang Dinge tun müssen, die ich nicht möchte? Wie streng sind die Regeln in so einer Klinik? Und überhaupt, was für Menschen gehen freiwillig in die Psychiatrie?
Zunächst stellte ich fest, dass es zwei sehr unterschiedliche Bereich in der Klinik gibt, die ich mir ausgesucht hatte. Zum einen gab des die sog. 'geschützte Station', wo die Menschen in Behandlung sind, die eine Gefährdung für sich selbst oder andere Menschen darstellen. Von dieser Station habe ich außer dem täglichen Blick hinab in deren Garten überhaupt nichts mitbekommen.
Und dann gab es noch den Bereich, in dem ich untergebracht wurde. Ein offener Bereich, in dem dennoch feste Regeln galten, um die Gesundheit und das Wohlergehen der Patienten zu garantieren. Morgens und Abends gab es eine bestimmte Uhrzeit, zu der ich mich beim Pflegedienst melden musste. Bei jeder Mahlzeit musste ich mich einstempeln, damit auf diese Weise kontrolliert werden konnte, ob ich anwesend war oder nicht. (Und ja, natürlich hat man sich hie und da einfach eingestempelt und ist dann mit Freunden Pizza essen gefahren). Nachtruhe war immer um 22.30 Uhr, die auch meist eingehalten wurde - nur bei den EM-Spielen wurde eine Ausnahme gemacht.
Am Tag meiner Ankunft hatte ich bereits den ersten Termin mit meiner behandelnden Ärztin. Sie nahm sich viel Zeit für mich, hörte mir zu und stellte dann auch direkt die Frage, ob ich darüber nachgedacht hätte, ob ich Medikamte nehmen wolle. Als ich mich unentschlossen zeigte, respektierte sie meinen Wunsch ohne zu Zögern und erst in der dritten Woche, als ich schlechter zu schlafen begann, verschrieb sie mir eine sog. Bedarfmedikation - etwas, das ich nehmen konnte, aber nicht musste.
In den Tagen darauf gab es weitere medizinische Untersuchungen, Blutabnahme und EKG, die im klinikeigenen Labor durchgeführt wurden.
In der ersten Woche bekam ich meine Einweisungen in den Sportbereich der Klinik. Da ich in diesen Tagen noch kein Therapieprogramm hatte, habe ich natürlich sofort die Chance genutzt und viel Sport gemacht: mit dem Erfolg, dass bereits nach dem vierten Tag eine erneute Arztvisite angesetzt wurde, in der die Ärztin mich bat, es nicht zu übertreiben. Auf diese Weise wurde mir klar, wie gut vernetzt Ärzte, Pflegedienst und Fachabteilungen sind. Zwar nicht immer perfekt - gerade in der Urlaubszeit wurde viel mit Vertretungen gearbeitet -, aber ich konnte überall den guten Willen spüren, auf den Patienten zu achten.
Ab der zweiten Woche liefen meine Therapien an. Ergotherapie, Sporttherapie, Einzeltherapie, Gruppentherapie und konzentrative Bewegungstherapie. Gerade Letzteres gab mir zunächst Rätsel auf und ich fragte mich selbst, was ich denn in einer Gruppe lernen sollte, in der es darum geht, meditativ seinen Körper, seine Gefühle und seine Gedanken wahrzunehmen und dann seine Empfindungen mit Hilfe von Gegenständen (vom Plüschaffen bis zum Springseil war alles da) darzustellen und zu erklären. Doch gerade diese Gruppe war es, die mich emotional am schnellsten knackte und mich merken ließ, dass mein Bauchgefühl, mein Selbstwert und meine körperliche Eigenwahrnehmung total kaputt waren. Erst in der achtsamen Beschäftigung mit mir selbst merkte ich, wie sehr mein Körper schmerzte und wie turbulent die Gefühle Achterbahn fuhren.
Die dritte Woche war deswegen ganz furchtbar. In allen Therapien kamen immer mehr Dinge zum Vorschein, die ich lange verschüttet geglaubt hatte - und die ich auch ganz aktiv verschüttet hatte. Meine Unfähigkeit, Freundschaften zu führen, meine unregulierte Emotionalität, mein Selbsthass, mein Glaube, dass ich nur mit Leistung etwas wert bin, meine Unfähigkeit zur Selbstabgrenzung und zum Nein-Sagen, meine Jugend mit dem schweren Mobbing, dem selbstverletzenden Verhalten und nicht zuletzt der Konflikt mit meiner Mutter, der bis heute nicht geklärt ist und mich vermutlich bis zu meinem Lebensende begleiten wird. Mir tat seelisch und körperlich alles weh in dieser Woche. Es war wirklich furchtbar, ich habe jeden Tag geweint und geflucht. Aber sowohl meine Bezugspflegerin als auch meine Therapeuten waren für mich da, trösteten, inspirierten und motivierten mich, weiterzumachen.
Ich glaube man kommt in jeder gut laufenden Therapie an den Punkt, an dem alles gesagt ist, alles offen liegt, man sich wund und verletzlich fühlt. Aber das ist auch der Punkt, an dem man aus den Trümmern wieder aufbauen kann. Deswegen ist Therapie echt harte Arbeit und man muss den unbedingten Willen mitbringen, sich auf alles einzulassen. Wenn man das nicht mitbringt, wenn das Verhältnis zu den Therapeuten nicht stimmen, dann macht es in meinen Augen keinen Sinn.
Ab der vierten Woche wurde alles besser. Ich fand durch die Ergotherapie wieder Freude am Malen, ich saß viel im Garten, erfreute mich an der Natur, las wieder und hörte wieder Musik - Dinge, die in der Depression verloren gegangen waren. Natürlich gab es hie und da noch emotionale Einbrüche und miese Tage. Aber sie wurden zusehends weniger. Alles, was in meinem Leben vorher als Muss erschienen war, war auf einmal im Fluß: Job, Beziehung, Freundschaften. Ich nahm mir vor, all diese Dinge nochmal neu zu bewerten, nun, da ich langsam begriff, dass es in meinem Leben nur darauf ankommt, was mich glücklich macht.
Oft hört man, dass Leute ihr Leben total umkrempeln, wenn sie aus der Psychiatrie kommen. Ich kann das nun recht gut verstehen, auch wenn ich beschlossen habe, dass riesige Schritte wie eine Kündigung oder eine Trennung definitiv der falsche Weg sind, da ich noch immer krank bin und erstmal in Ruhe gesunden muss. Was ich aber machen kann, ist eine Politik der kleinen Schritte: Entscheidungen erst einmal in Ruhe bedenken, bevor ich sie treffe, weil mein Bauchgefühl ja noch immer kaputt ist. Nein-Sagen üben im Alltag (puh, gar nicht so einfach). Meine Wohnung umgestalten und mir einen Ort schaffen, wo ich mich entspannt und sicher fühle. Regelmäßig Sport treiben und zur Massage gehen. Nicht direkt in die Luft gehen, wenn Menschen Dinge anders anpacken, als ich es tun würde.
In der fünften Woche gab mir meine Einzeltherapeutin zum ersten Mal das Wort "Borderline" mit auf den Weg und informierte mich über diese Art der Persönlichkeitsstörung. Sie zeigte mir an einige Beispielen auf, dass diese Diagnose in vielen Bereichen meines Lebens zuträfe, sagte aber direkt, dass ich in ganz vielen anderen Bereichen eben wenig bis gar keine typischen Anzeichen zeigen würde. Eine 'Akzentuierung' nannte sie es. Ich beschloss, mich zu informieren und las einige medizinische Fachartikel zum Thema. Tatsächlich fand ich mich im Borderline wieder und ich fühlte, wie mir ein riesiger Stein vom Herzen fiel. Da war sie, eine Erklärung für so viele Dinge, die falsch liefen und die ich erst in den Wochen in der Klinik so richtig begriffen und beleuchtet hatte: die emotionale Leere in mir, die Selbstverletzungen, das Gefühl, fett und hässlich zu sein, obwohl mir alle etwas Anderes sagen, die unkontrollierten Wutausbrüche, das rauschartige Einkaufen oder Essen, die schwierigen Freundschaften, die kritische Berufswahl.
Ich war angekommen. Irgendwo in mir, wo etwas seit meinen Kindertagen etwas kaputt ist. Ich wußte jetzt endlich, dass es eine Störung ist, eine Erkrankung. Die kam, weil mir im Lauf der Kindheit so viele schlimme Dinge geschehen sind und nicht, weil ich ein weinerliches, mieses Riesenarschloch bin. Ich bin kein schlechter Mensch. Ich lief zwei Tage mit einem riesigen Grinsen herum, bis ich dann etwas begriff: die Erkenntnis ist erst der Anfang. Borderline ist für mich eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Jetzt, wo ich weiß, wo meine Defizite und Schwäche liegen, wo meine Ängste herkommen und wo ich seelisch wackele, ist es meine Aufgabe, das alles anzupacken. Langsam und mit kritischem Blick für meine eigenen Kräfte. Das schulde ich mir selbst und meinem absoluten Willen, ein glückliches und langes Leben zu führen. Es gibt viel zu tun....essen wir nen Keks und packen es an
Seit einigen Tagen bin ich wieder zuhause. Die letzten Tage vor der Entlassung waren sehr wehmütig. Ich hatte einige Mitpatienten sehr liebgewonnen, ich mochte den festen Tagesablauf der Klinik, das leckere Essen und schlichtweg das Gefühl, dass sich jemand um mich kümmert, wo ich mich doch mein ganzes Leben immer zuerst um Andere gekümmert habe. Die Zweifel waren groß - ob ich im Alltag umsetzen kann, was ich in der Klinik erkannt habe? Wie wohl mein Umfeld reagieren wird, wenn es erfährt, dass ich in der Psychiatrie war?
(Meine Mutter kann das Wort "Psychiatrie" übrigens nicht aussprechen. Sie sagt ich sei "unterwegs gewesen". Vor der Klinik hätte mich das irgendwie verletzt, inzwischen denke ich, dass sie eben auch so jemand ist wie ich - sie kann nicht aus ihrer Haut. Im Gegensatz zu mir hat sie es allerdings auch nie versucht.)
Ich gehe jetzt im Freundes- und Kollegenkreis recht offen damit um, dass ich in der Klinik war. Mein Vater hat Bedenken, dass mich niemand mehr einstellen würde, wenn bekannt wird, dass ich psychisch angeschlagen bin. Ich sehe das aber lockerer. Für jemanden, der nicht begreift, dass eine psychische Erkrankung eben genau das ist - eine Krankheit, die jeden treffen kann - , möchte ich auch nicht arbeiten.
Und gerade durch meine Offenheit habe ich viel Unterstützung in Bereichen erfahren, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Die Masse an Nachrichten in sozialen Netzwerken, Mails und Anrufen, die mich aufbauen und Ratschläge enthalten und die vielen guten Gespräche mit Leuten, die ebenso klar von ihren Problemen berichteten wie ich, überraschen mich und tragen mich heute auf meinem Weg weiter.
Eine Depression kann jeden treffen. Manche etwas leichter, weil sie instabil sind und es ihnen an Resilienzen fehlte. Manche schwerer. Aber sie ist in keinem Fall etwas, für das man sich schämen muss. Wichtig ist, dass man darüber redet. Mit der Familie, dem Partner, Vertrauenslehrern, Therapeuten, Freunden. Nur dem, der mit der Sprache das Innere nach Außen bringt, kann geholfen werden.
Und sollte es Euch mal so schlecht gehen, dass Ihr an Eurem Leben zweifelt, dann zögert nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Beginnt eine Therapie, denkt über Medikamente nach und geht notfalls in eine Klinik, wie ich es getan habe. Eine bessere Investition in Euer wertvollstes Gut - in Euch selbst - kann es gar nicht geben.
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