Gibt es einen offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen?

M
Benutzer50955  Sehr bekannt hier
  • #1
Hallo zusammen!

Kürzlich wurde über eine Auswertung von Krankheitstagen der Versicherten einer Krankenkasse berichtet. Danach sind die Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen erneut gestiegen. Zurückgeführt wurde dies nicht unbedingt auf eine höhere Erkrankungsrate, sondern eher darauf, dass das Stigma psychischer Erkrankungen nicht mehr so präsent ist und sich Leute heute eher in Behandlungs begeben und krankschreiben lassen.

Da hier psychische Erkrankungen ja recht häufig ein Thema sind würde mich mal interessieren, wie Ihr als Betroffene dies betrachtet. Welche Erkrankung habt ihr und wie offen geht ihr damit um?
Wer weiß davon und vor wem wird die Erkrankung bewusst verschwiegen?
Wie geht ihr gerade bei der Arbeit damit um? Ich hönnte mir vorstellen, dass man gerade hier trotz gegenwärtiger Veränderungen verschlossener bleibt, da man nicht als "leistungsschwach" gelten will.
 
G
Benutzer19708  (44) Verbringt hier viel Zeit
  • #2
Ja, ich habe eine narzistisch gestörte Persönlichkeit mit depressiven Schüben.
Wirklich merken tue ich eigentlich "nur" die depressiven Phasen. Das andere bedingt eher mein Denken, was mich in depressive Phasen abgleiten lässt

Offen... ja, das ist so ein Thema. Ich habe das viele Jahre lang verschwiegen, allen Menschen, auch mir selbst. Ich hab mir erst Hilfe geholt als es zu spät war damit "gut" umzugehen. Ich habe relativ viel Gegenwind bekommen, dass ich das so lange geheim hielt. Jedenfalls im ersten Moment

Ich habe mich den Menschen, die mir nahe stehen anvertraut. Den engsten Freunden, meinen Eltern und meiner (jetzt) Ex-Frau. Im Kern wurde das ganze relativ positiv aufgenommen, wenn man das so sagen kann. Also das ich eben psychische Probleme habe, dass ich mir Hilfe suche, dass ich Unterstützung brauche und bekomme. Am positivsten hat eigentlich mein Freundeskreis reagiert, jeder war einfach nur da, keine Ratschläge, keine Fragen, einfach nur da gewesen, als es mir sehr schlecht ging.

Ein Unterschied war mein Arbeitsleben: als ich mich entschloss mir Hilfe zu suchen, hatte ich einen Suizidversuch hinter mir. Da ich nicht abschätzen konnte, ob ich eine ambulante oder stationäre Therapieform bekomme, musste ich vor meinem Chef mit offenen Karten spielen - schließlich konnte es passieren, dass ich auf Schlag für längere Zeit ausfalle. Ich habe mich ihm also anvertraut und habe auch an dieser Stelle sehr positives erfahren. Er hat das Problem verstanden und hat in meinem Sinne die Weichen gestellt, dass ich nicht mit dem Gedanken "was ist mit meiner Arbeit" im Hintergrund eine Behandlung starten konnte. Ich glaube dieses Verhalten mir gegenüber ist ein äußerster Glücksfall, was man nicht in jedem Betrieb erwarten kann.
Weil ich zwischendrin starke Tiefpunkte hatte, die zum Teil meine Arbeit negativ beeinflusst haben, habe ich mich - ebenfalls mit Hilfe meines Chefs - in Grundzügen meinen Bürokollegen anvertraut (Anekdote: um mir dieses Gespräch angenehmer zu machen, hat mein Chef meine Kollegen und mich in einem Besprechungsraum versammelt, gebeten alle Arbeitshandys aus zu machen und gesagt: "Was jetzt gesagt wird, verlässt diesen Raum nicht. Wenn doch, wird derjenige fristlos gefeuert, ist mir scheißegal was ein Arbeitsgericht dazu irgendwann mal sagen sollte. Das wir uns verstehen,wie ernst mir das ist!"). Man merkte das meine Kollegen damit nicht so recht umgehen konnten - klar, die Auswirkungen kann niemand erklären - aber es half mir schon, dass ich mich im Zweifel nicht verstecken musste.

Mittlerweile bin ich auf einem guten Weg, ich habe einen Umweg über einen mehrwöchigen Aufenthalt in einer Tagesklinik gemacht - auch hier wurden mir von der Arbeit keine Steine in den Weg gelegt, sondern nach dem Motto gehandelt: ich soll lieber jetzt geplant ausfallen, als ungeplant viel zu lange.
Dieser Klinikaufenthalt hat mir sehr geholfen, ich arbeite wieder - ich behaupte mal auch in voller Leistung - und gehe jede Woche zur Therapie.

Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, so kann ich mittlerweile auch mit der Wahrheit antworten, dass ich eben gute und schlechte Tage habe. Und das ich die schlechten trotz aller Rationalität nicht erklären kann.
 
DaMax
Benutzer130414  Meistens hier zu finden
  • #3
Ich würde sagen, es ist nur teilweise offener.

Ich denke das sich manche dieser Krankschreibungen auch auf 2 Faktoren zurückzuführen lassen.
Den einen sehe ich sehr positiv, den anderen eher Grenzwertig

1. Hausärzte sind sensibilisiert. Es gibt jetzt viel häufiger Hausarztseitig Hinweise und Beratungen bei psychischen Erkrankungen.

2. Es gibt jetzt viel mehr Psychische Erkrankungen.
Ich zum Beispiel bin leicht Autistisch gepaart mit einer manischen Depression. Über meine anwandlung sehr Exzessiv mit mir selbst zu reden und teilweise diese gespräche für wirklich stattgefundene zu halten mal zu schweigen.
Diese Diagnose hab ich von ner bekannten Ärztin die mich gut kennt, aber meinte ich solle damit lieber nicht offiziell zu ihr kommen, das sie sieht das ich damit sehr gut zurecht komme und sie keine Behandlungsempfehlung schreiben will.
und es stimmt. ich liebe meinen Schaden und sehe ihn als essentiellen Bestandteil meiner selbst.

Von daher weiß ich nicht ob gleich immer alles als schlimme Krankheit diagnostoziert und mit therapien verbunden werden sollte.Manches erscheint mir doche eher als abweichenden Charaktereigenschaften und Eigenheiten als als Krankheitsbild
 
Lissy_20
Benutzer4030  Meistens hier zu finden
  • #4
Ich würde sagen, es ist nur teilweise offener.

Von daher weiß ich nicht ob gleich immer alles als schlimme Krankheit diagnostoziert und mit therapien verbunden werden sollte.Manches erscheint mir doche eher als abweichenden Charaktereigenschaften und Eigenheiten als als Krankheitsbild

Dem stimme ich erstmal zu. Ich möchte die Krankheiten als solche nicht weg reden. Da es sie gibt. Ich bin auch selber betroffen. Aus der Akutphase bin ich heraus. Was jetzt noch übrig bleibt, sind eben Charaktereingenschaften, die auf Grund der Erkrankung noch da sind. Würde ich jetzt noch gegen diese ankämpfen, hätte ich wohl nicht lange Kraft dazu. Ich habe oder bin dabei zu akzeptieren wer ich bin. Mit allen meinen Eigenschaften. Auch den "schlechten". Klar kann das die Mehrheit der Gesellschaft nicht verstehen oder akzeptieren. Aber genauso gut gibt es Menschen die mich verstehen.

Die Erkrankungen nehmen zu und da landen auch endlich mal die Hausärzte mehr Treffer. Darauf für ich zurück, dass es mehr offizielle Erkrankunge gibt.

Mir wurde damals von meinen verschienden Erkrankungen mehr oder weniger empfohlen, welche dann zum Schluß auf den offiziellen Krankenschein stehen soll. Und da wurde auch Augenmerk drauf gelegt, dass die harmloseste drauf steht.
 
blondi445
Benutzer28811  (36) Meistens hier zu finden
  • #5
Interessanter Threat....

Ich litt selbst an Depressionen und weiß wie schwer es ist darüber zu sprechen. Gerade bei Depressionen hat man Angst nicht ernst genommen zu werden von wegen " Jeder hat mal ne schlechte Phase" oder "Jetzt reiß dich mal zusammen" :schuettel:
das Krankheitsbild einer Depression ist viel vielschichtiger als "einen schlechten Tag" zu haben...
Aber ich denke hier hat sich schon einiges getan. Mein Hausarzt war total offen und hat mich gleich ernst genommen, auch der behandelnde Psychiater und meine Therapeutin waren ad sehr offen und zugänglich.

Schwierig fand ich eher den eher "leichtsinnigen" Umgang mit Medikamenten :hmm: Ich hatte damals ein Antidepressivum bekommen ,dass furchtbar schlecht abzusetzen ist. Darüber hätte mich mein Arzt meiner Meinung nach informieren sollen. Daher habe ich gut 1,5 Jahre länger gebraucht es abzusetzen. Aber auch das hab ich geschafft letzendlich :jaa:

Was die Arbeit angeht, da habe ich "halboffen" damit gespielt. Habe meinem Chef gesagt ich mache eine Art "Coaching" und das diese Therapie immer Dienstag frühs ist. Damit ich einfach die Therapiezeiten einhalten kann. Natürlich hat er nachgefragt und ein bisschen hab ich schon erzählt. Aber was ich befürchtete trat auch ein, beim nächsten MA-Gespräch kam gleich zur Sprache "nun ja sie sind ja auch eher labil....":realmad: --> NOGO meiner Meinung nach. Kostet ja doch einiges an Überwindung in solchen Dingen "ehrlich" zu sein...aber gut.

@Mr. Shelby, hast du denn selbst auch mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen? oder interessiert dich nur das Thema?

LG blondi
 
Lissy_20
Benutzer4030  Meistens hier zu finden
  • #6
Schwierig fand ich eher den eher "leichtsinnigen" Umgang mit Medikamenten :hmm: Ich hatte damals ein Antidepressivum bekommen ,dass furchtbar schlecht abzusetzen ist. Darüber hätte mich mein Arzt meiner Meinung nach informieren sollen. Daher habe ich gut 1,5 Jahre länger gebraucht es abzusetzen. Aber auch das hab ich geschafft letzendlich :jaa:

Ich hatte auch Probleme mit dem absetzen. Als ich dachte ich könnte es absetzten sprach ich mit meinen Psychologen "Da kann ich ihnen nichts sagen, das Medikament kenne ich nicht, an die Person wenden, die es verschreibt", Ich zum Hausarzt "Nee, da kann ich ihnen nicht helfen, Sie müssen dahin, der ihnen das zu allererst verschrieben hat" Hies in meinen Fall Psychatrie, aber da wollte ich nicht wieder stationär hin. Habe es dann selber geschafft ohne jemanden. Ist zwar gut gegegangen, aber hab mich da schon sehr allein gelassen gefühlt.

blondi445 blondi445 auf Arbeit ging es bei mir zum Glück. Ist aber auch ein sehr kleiner Betrieb, hätte aber auch nach hinten los gehen können. Im Prinzip ist es ein Stück weit schon ein Stigma.
 
blondi445
Benutzer28811  (36) Meistens hier zu finden
  • #7
Lissy_20 Lissy_20 Magst du mir verraten welches Medikament du hattest? Hast du auch unter Depressionen gelitten?
Ich hatte Venlafaxin und ich sage dir das absetzen war die Hölle. Zum Glück hatte ich eine nicht so hohe Dosis, ich weiß nicht wie lange man braucht wenn man von 300 mg runter geht.

Geht es dir denn wieder gut?

LG
 
soft murmur
Benutzer150539  (35) Sehr bekannt hier
  • #8
Ich bin teil-betroffen, mein Papa sehr.
Bei ihm waren seine "Phasen" einfach normal, mal manischer-cholerischer, mal ruhiger, depressiver und verschlossener. Das ganze dauert von Maximum zu Minimum ca. 5 Jahre. Gemerkt hats nie jemand, behandeln lassen will er sich auch nicht. Nicht einmal ne Einweisung hat damals geholfen, dass er einsichtig wird. Es sei eben sein Charakter.
Alle Kollegen, die davon erfuhren konnten damit nicht umgehen und das Thema wird phänomenal totgeschwiegen. Nun arbeitet er noch ein Jahr bis zur Rente, dann mal schauen, wie es wird.

Ich hatte depressiv-suizidale Zeiten. Beim einen Mal wurd ich über die Einweisung von meinem Paps "gecoacht" und die Uni nahms ganz gelassen auf, weswegen ich krank geschrieben wurde. Beim anderen Mal erkannte nicht mal der Fachmann, was mit mir los war, bei dem ich mein Praktikum gemacht hatte in dieser Zeit. Und von ihm hörte ich die typischen "reiss dich zusammen, jeder hat mal ne schlechte Phase"-Phrasen. Heute weiss ich, dass die Zeit wohl auch noch durch Verhütungs-Hormone verstärkt wurde. Als ich sie absetzte, gings mir gleich sehr viel besser. Von Fachärzten etc. erhielt ich darauf schon blöde Kommentare, dass die Pille (also genau DIE marke/sorte) keine psychischen Veränderungen mache und blablabla. Jeder reagiert da anders, das weiss man (gibt auch Depressionen als Nebenwirkugn bei Blutdruck-Medikamenten!)

Mittlerweile steck ich seit nem Jahr in ner ziemlich stressigen Konstellation, weshalb ich dachte, dass mein "Down" nur von daher kommt. Meine Freunde fragen zwar immer wieder, wie es geht, doch mit negativen Antworten können sie nicht umgehen. Ich schieb den Termin für ein Gespräch momentan immer wieder raus, weil ich eine Aufgabe nach der anderen meistern will, sonst wird mir alles zu viel, doch genau das sind die anzeichen, wenn es bei mir eigendlich nicht gut läuft.

Ein Freund von mir hat arg mit Depressionen zu kämpfen. Ihm werden berufstechnisch immer wieder Steine in den Weg gelegt und er braucht sehr viel Unterstützung durch die "richtigen Leute" (Glücksfälle), damit er weiter kommt. Leider hat er mittlerweile die Medikamente wieder abgesetzt und die Therapeuten schieben ihn herum, weil niemand mit dem Grundproblem (Liebeswahn) klarkommt.
 
Lissy_20
Benutzer4030  Meistens hier zu finden
  • #9
Lissy_20 Lissy_20 Magst du mir verraten welches Medikament du hattest? Hast du auch unter Depressionen gelitten?

Jap, mit Psychosomatischen Beschwerden. Ich hatte Cymbalta 60 mg. Klar hab ich gleich gemerkt, wenn ich mal eine vergessen hatte, und das Absetzen war nicht unbedingt ein zuckerschlecken, obwohl gesagt, wird, dass sie nicht abhängig machen.
 
M
Benutzer50955  Sehr bekannt hier
  • Themenstarter
  • #10
@Mr. Shelby, hast du denn selbst auch mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen? oder interessiert dich nur das Thema?

Ich hatte damit mal beruflich zu tun, da eine Kollegin längerfristig erkrankt war. Es schien so, dass der Arbeitgeber damit sehr verständnisvoll umgegangen ist. Aber klar: Was hinter den Kulissen geredet wird, kann natürlich keiner sagen. Und ob bei Dingen wie Vertragsverlängerung/Beförderung etc. eine Erkrankung nicht dann doch plötzlich wieder den Ausschlag gibt, kann man auch nicht wissen.

Mal aus Interesse: Ist man bei er Einnahme eines Antidepressivums eigentlich glücklich oder gar euphorisch...oder wird man dadurch nur "neutral"?
 
blondi445
Benutzer28811  (36) Meistens hier zu finden
  • #11
M MrShelby nein glücklich und euphorisch macht es definitiv nicht. Es "stabilisiert" meiner Meinung nach. Und die Wirkung entfaltet sich ja auch erst nach einer längeren Einnahmezeit. Es ist ein Irrglaube, dass Medikamente "high" machen. Auch wenn ich den Ansatz verstehen kann, befinden sich ja in diesen Medikamenten ähnliche Zusammensetzungen wie in diversen Aufputschmitteln, Drogen.
 
Lissy_20
Benutzer4030  Meistens hier zu finden
  • #12
Erst nach dem Absetzen habe ich gemerkt wie sehr es meinen Charakter beeinflußt hatte. Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, wie es vor meiner Erkrankung war, weil ich davor schon 6 Jahre depressiv war. Ich war während der fast 2-jährigen Einnahme wie gelähmt, bissel leck mich am Arsch. Wie durch ein Nebel. Also ich war nicht mehr ich. Das war mir aber in dem Moment gar nicht bewußt.
[doublepost=1446725833,1446725794][/doublepost]Weder glücklich noch unglücklich. Stabil halt.
 
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