
Benutzer20579 (40)
Planet-Liebe ist Startseite
- #1
Liebe Forumsgemeinde,
ich muss mich einfach mal ausheulen und brauche irgendwo Raum dazu. Anlass ist meine Mutter und ihre seltsame Krankheit – und akut ein sehr verstörendes Telefonat vom heutigen Tage, nachdem ich mich gefragt habe, wo meine Mutter hin ist und erstmal geheult habe.
Das Ganze geht eigentlich schon Jahre zurück, es startete mit Gangunsicherheiten. Meine Mutter ist klein und pummelig, wir haben uns also erst nichts dabei gedacht, wenn sie irgendwo beim Wandern eine Hand brauchte, bei höheren Stufen mit meinem Vater gemeinsam ging. Sie hatte schon immer ein eigenwilliges Gangbild mit kleinen Schritten und festen Armen, als würde sie marschieren.
Über die Jahre wurde es schlimmer. Sie strauchelte eines Winters so sehr auf dem Weihnachtsmarkt, schob es auf die schlechten Sichtverhältnisse. Sie besorgte sich eine Brille, die half aber nicht. Rückblickend haben es einige Leute schon länger beobachtet - eine Freundin, die im Altenheim arbeitet, diverse Krankenschwestern aus dem Umfeld... die kleinen Schritte, der unsichere Gang, das Festhalten beim Treppensteigen.
Ein Jahr später offenbarte sie uns unter Tränen, dass sie kaum noch gehen könne, dass ihr immer schwindelig sei. Wir konnten damals nicht vom Museum zum Restaurant spazieren, wir mussten das Auto holen. Das war Ende 2019, kurz danach kam Corona.
Die Behandlung war nun entsprechend schleppend. Es startete beim Neurologen und beim HNO, die Standards wurden abgeklopft - HNO-technisch alles okay, Nervenbahnen okay. Blutbilder und MRTs folgten. Sie war bei diversen Unikliniken in verschiedenen Spezialabteilungen. Die Schwindelambulanz fand nichts. Dann gab es den Verdacht auf MS. Es wurden weiße Flecken im Hirn gefunden, viele davon. Man gab ihr Cortison und Medikamente gegen MS - nichts half. Die Klinik meinte, wäre es MS, hätte irgendwas zumindest eine Veränderung zeigen müssen, das tat es aber nicht. Sie wurde stets nach zig Tests, MRTs, Lumbalpunktionen, Wissenstests, Augen-Ohren und sonstigen Tests entlassen. Die Wartezeiten zwischen den Terminen waren endlos.
Der Neurologe verordnete Physiotherapie, da geht sie bis heute hin und es hilft ihr. (Immerhin!)
Sie war bei der Humangenetikerin, die eine Mutation auf dem X-Chromosom fand. Der Verdacht fiel auf Fragile X Ataxie-und Tremor-Syndrom (Fragiles-X-assoziiertes Tremor-/Ataxie-Syndrom – Wikipedia) Das Syndrom ist recht neu und unbekannt – vor allen Dingen bei Frauen gibt es wenige Informationen. Laut Humangenetikerin kann es die isolierten Gangunsicherheiten aber eigentlich nicht erklären.
Lange Zeit hieß es dann eben: Multiple Sklerose. Liegt in der Familie, wird manchmal auch zusammen mit Fragile X diagnostiziert. Darauf konnten wir uns einstellen, okay.
Zeitgleich wurde meine Mutter aber auch „wunderlicher". Sie ist fahrig in Gesprächen, wechselt zusammenhanglos das Thema, geht auf nichts ein, was ich sage oder sagt auf einmal „Ach ja." Sie ruft nicht mehr an, sie reagiert im Familienchat auf fast nichts mehr. Die Kinder animieren sie bei Besuchen, sie macht zwar mit, aber es wirkt oft so teilnahmslos.
Es gab trotzdem gute Phasen – letztes Jahr im Urlaub sind wir stundenlang durch einen Nationalpark gewandert, wir haben ihr geholfen, mein Vater stützt sie – aber wir haben es gemacht. Da hatte ich Hoffnung, dass es eben alles „halb so wild" ist, dass wir damit leben können. Die Geburtstagsfeiern dieses Jahr waren fast wie immer, sie wirkte ausgeglichen, plauderte mit den Schwiegereltern und ich dachte: "Falscher Alarm, umsonst bekloppt gemacht".
Aber die Telefonate mit ihr wurden „komischer". Erst dachte ich, sie ist vielleicht auch schwerhörig, es fällt ihr schwer, sich auf Gespräche zu konzentrieren. Der Fernseher zu Hause läuft dauernd in unendlicher Lautstärke. Sie schaut viel Schrott, das war früher auch nicht so.
Die Besuche sind teilweise komisch geworden. Sie redet zusammenhanglos dazwischen, wirkt unkonzentriert, weiß nie, worum es geht. Irgendeiner erzählt was, sie kommt dazu, sagt: "Hm??" Wenn man ihr erklärt, worum es geht, schweift sie schon wieder ab. Das Problem ist in der Familie nicht selten, es ist ein Haufen durcheinander quatschender, lauter Frauen, die alle nicht verstehen, wovon der andere redet.
Deswegen ist es schwer, zu merken, ob sich was verändert. Wenn 10 Tischgespräche parallel laufen, kann man schwer sagen, welcher Teilnehmer nun wunderlich ist.
Trotzdem kam mir immer häufiger der Gedanke, ob diese fahrige, tüddelige Frau noch meine intelligente Mutter ist, die ich bis vor 10 Jahren noch hatte. Wir haben nächtelang gequatscht und geredet, ich konnte sie bei jeder Sorge anrufen. Sie war schon immer sprunghaft und teils völlig jenseits des Kontexts – schon vor 15 Jahren antwortete sie auf meine Aussage, dass ich mich einer schweren OP unterziehen muss, damit, dass die Daily Soap, die sie schaut, ja auch immer bekloppter wird. Als ich mich von meinem schwer depressiven Ex trennte, weil er mich terrorisierte, war ihre erste Antwort, wer jetzt mit ihr den Schimmelkäse essen würde, den sonst keiner mag und mit ihr über Planeten redet, was hier sonst keinen interessiert. Und als ich die Fehlgeburt hatte, meinte sie: "Wieso seid ihr denn traurig?" Man merkt: Wunderlich war sie schon immer. Aber es erreicht eine neue Qualität, die mir Angst macht. Keine Frage: Es gab immer seltsame Situationen. Aber ich bekam sie aufgelöst und hatte trotzdem in 95% der Fälle eine empathische, emotionale Mama. Wir waren immer wie beste Freundinnen, waren sooo dicke. Ich konnte ihr alles anvertrauen. Mittlerweile geht das nicht mehr, weil ich das Gefühl habe, es kommt nicht an.
Auslöser meines heutigen Postings ist ein Telefonat, was ich heute mit ihr führte. Erstmal vorweg: Wir haben Covid. Sie weiß es seit vorgestern. Meine Eltern haben uns nicht angerufen, was ich schonmal seltsam finde – man könnte sich doch mal erkundigen? Ich habe also angerufen und wollte erzählen.
Gespräch lief in etwa so:
„Hallo Mama, wie geht's euch?"
„Mir schlecht, deinem Papa wie immer."
"Gibts bei dir denn was Neues, dass es dir schlecht geht oder wegen deiner Krankheit?"
"Nee, wegen der Krankheit, heute ist nicht gut."
"Das tut mir sehr leid. Bei uns ist es auch nicht so gut, wir haben ja Corona und es geht uns nicht so gut."
„Ja, ich weiß."
„Ja, ist gar nicht schön, ich hatte Fieber und Schüttelfrost."
„Ach du Arme. Achja." – Stille in der Leitung.
Ich fragte, was los ist? „Ja ich weiß auch nicht, wo ich anfangen soll. Dein Vater ist bei seiner Rentenfeier, da bin ich mal gespannt, was er bekommt."
„Als Rente?"
„Nein, als Geschenk. Er kriegt doch heute ein Geschenk zum Abschied."
„Achso."
„Ja und ich habe 1000 Dinge im Kopf, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich muss noch Böden wischen und der Bofrostmann kommt auch noch. Es ist alles zuviel. Wenn dein Vater weg ist, muss ich richtig was schaffen. Aber mir ist so schwindelig den ganzen Tag." (Diese Überforderung wegen "gar nichts" hat sie schon ihr Leben lang. Als Kind wollte ich mal an einem Donnerstag ins Kino und sie sagte, das ginge nicht, weil sie da ihre Haare föhnen muss.)
„Ja Mama, vielleicht solltet ihr doch mal über eine Haushaltshilfe nachdenken"
„Nein, ich schaffe alles alleine, ich brauche keine Hilfe."
Es ging dann irgendwie seltsam weiter, sie sagt kurze Sätze, sie spricht teils verwaschen und sie schließt völlig zusammenhanglos mit: „Achja."
Dann hieß es, sie müsse jetzt aufhören, sie müsse ihren Bruder anrufen. (Das Telefonat ging bis dahin noch keine 5 Minuten).
Ich meinte, dass ich eigentlich angerufen hätte, weil ich ihr erzählen wollte, dass die Oma meines Mannes gestorben ist. Antwort:
„Das war ja zu erwarten."
„Wie bitte?"
„Ja sie war doch alt."
„Ja natürlich Mama, aber wir sind hier extrem traurig. Was ist heute los mit dir?"
„Wieso, was soll sein?"
„Du bist komisch. Ich rufe dich an, weil ich dir erzählen möchte, dass wir Covid haben, dass die Oma gestorben ist, wir sind echt erledigt. Und von dir kommt gar nichts."
„Ja, ist dein Mann denn traurig?"
„Natürlich ist er traurig, seine Oma ist gestorben!"
„Achja. Erzähl doch mal lieber was Lustiges von den Kindern!"
Ich meinte dann, was ich Lustiges erzählen soll. Wir kommen aus einer Phase mit Lungenentzündung, meinem Treppensturz mit Gehirnerschütterung, jetzt haben wir Covid und die Oma ist tot! Gerade ist es nicht soo lustig hier, es tut mir leid. Ich habe das ganz nett gesagt, nicht fies oder so.
Dann sagte sie: „Ach ja, ihr Armen. Aber am Geburtstag nächste Woche kommen wir dann doch kurz vorbei." Ich sagte: „Ich weiß nicht, ob das geht Mama! Wir müssen bis dahin erst wieder negativ sein. Ich habe total Angst, dass ich den 6. Geburtstag meiner Tochter nicht feiern kann, weil wir hier Covid haben!"
„Ach und ich dachte, ihr seid negativ." In dem Moment war ich fassungslos. Ich fragte sie, wie wir negativ sein sollen, wenn wir gestern einen positiven PCR-Test gemacht haben. Sie sagte: „Das weiß ich nicht, ich kenne mich mit Covid doch nicht aus." Sie wirkte komplett hilflos, sie tat mir leid.
Ich habe dann irgendwann geschaut, dass ich lieb und freundlich aus dem Telefonat rauskomme, habe nach meinem Vater gefragt, weil ich mit ihm reden möchte und mich lieb verabschiedet – und dann erstmal geheult. Ich hatte das Gefühl, ich rede mit einer alten Frau, nicht mit meiner Mutter. Sie ist erst Mitte 60. Was ist da bitteschön los?
Ich habe meinem Mann von dem Telefonat erzählt und ihm gesagt, egal, was man sagen möchte – das nicht normal. Wenn ich die Zusammenfassung lese, könnte es so anklingen, als hätte ich ihr Druck gemacht und sie hätte deshalb dicht gemacht. Aber so war es nicht – sie redet nur noch in kurzen Sätzen, zeigt null Empathie und sagt irgendwann „Achja."
Ich habe mich danach zum Thema beginnende Demenz kirre gegoogelt und Angst bekommen. Meine Mutter hat sich ihr ganzes Leben an alles erinnert, sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Sie hat immer eher zuviel, als zu wenig geredet. Geplaudert, referiert, was über Pilze und Pflanzen erzählt, mit mir Gruselgeschichten ausgetauscht, alles. Sie hatte zu allem eine Meinung, politisch, gesellschaftlich, zu meinen Freunden und Bekannten. Neulich habe ihr erzählt, dass der Vater einer Jugendfreundin gestorben ist, ihre Reaktion war auch bei Null.
Ich habe danach mit meiner Tante telefoniert, die solche Telefonate ebenfalls kennt und jede meiner Beobachtungen bestätigte – und die die Demenzsorge auch schon länger hat. Sie erzählte auch, dass ihr Mann schon länger nicht mehr mit zu den Familienfeiern wolle, weil er nicht ertragen könne, wie sich meine Mutter verändert habe in den letzten beiden Jahren. Er kann mit sowas nicht umgehen. Ich finde es heftig, dass es schon so weit gekommen ist, es ist definitiv keine Einbildung.
Dann habe ich mit meinem Bruder telefoniert, der uns nämlich kondoliert hatte und offenbar auch mit ihr gesprochen hatte – und er meinte, sein Telefonat mit ihr wäre ähnlich gewesen. Er sagte, dass er sich auch vorstellen könne, dass es ein starker depressiver Schub sei und dass meine Mutter vor jeder schlechten Nachricht einfach nur dicht mache, weil sie voll mit ihrer Krankheit sei – ich habe ja schon fast die Hoffnung, dass das sein könnte, lieber Depressionen, als Demenz.
Ich habe neulich alle Befunde bei meinen Eltern fotografiert und ich frage mich, warum auf dieses Thema noch niemand gekommen ist. Tatsächlich ist nämlich in einem der Befundberichte ein Frühtest auf Demenz „auffällig". Dennoch wird es nirgendwo aufgegriffen. Ich habe fast den Verdacht, dass eine Hausfrau ohne großartige Schulbildung, die etwas tüddelig wirkt, einfach durchs Raster fällt – sie ist halt kein Gehirnchirurg, dessen mentale Leistung nachlässt. Und keiner der Ärzte kennt sie von früher. Sie wirkt nun halt einfach unkonzentriert, etwas einfältig, vielleicht auch „schlichter"- aber das war sie halt nie. Ich schließe auch nicht aus, dass die Ärzte etwas in der Art schon mit ihr besprochen haben und sie es abgetan hat – stur ist sie schon immer und sie macht komplett dicht, wenn sie sich angegriffen fühlt. Ich klammere mich insoweit an die Hoffnung, dass auch der auffällige Demenzfrühtest nur daher resultiert, dass sie den Arzt blöd fand – das ist durchaus denkbar.
So oder so, ich habe eine Scheißangst. Es kommt im Moment eh schon alles zusammen und ich könnte soviel mehr schreiben. Ich würde gerne mit meinem Vater darüber sprechen, befürchte aber, dass er alles abblockt – es heißt bei allem, „Du weißt doch, wie deine Mutter ist!" oder „So war sie doch schon immer!" Und in mir nagt die Angst, dass eben gar nichts „wie immer" ist.
Letztendlich kann es natürlich auch sein, dass meine Mutter durch ihre eigenen Sorgen und Ängste so ist – sie ist schon immer depressiv, hat Angststörungen, Verlustangst, was meinen Vater und uns Kinder angeht – und dazu diese quasi ungeklärte Diagnose, das macht ihr lähmende Angst. Außerdem bekommt sie diverse Medikamente. Wenn ein Mensch vollläuft vor Stress und Sorge, kann es natürlich sein, dass er fahrig wird und keine Informationen mehr aufnehmen kann. Ich klammere mich an die Idee, dass es sowas ist. Aber was, wenn nicht?
In mir ist ein ziemlicher Trauerprozess angestoßen, schon länger, nicht erst seit heute. Ich hätte mir gerne zwei gesunde Großelternpaare für meine Kinder gewünscht, ich bin teilweise wütend darauf, wie sehr die Kinder auf meine Schwiegermutter abfahren und wie wenig meine Kinder von meiner Mama haben. Ich hätte sie gerne so zurück, wie sie früher war.
Meine Tante sagte heute auch, dass sie ihre Schwester von früher vermisst und dass sie ihr fehlt. Das war ein großer Trost, zu wissen, dass man nicht alleine ist mit dem Gefühl. Neulich habe ich geträumt, dass ich mit meiner Mutter so spreche wie früher und dass wir darüber lachen, dass wir in den letzten Jahren wegen der Kinder gar keine Zeit mehr dazu hatten, so unbefangen miteinander zu sprechen. Und dann bin ich aufgewacht und mir war klar, dass es nicht an den Kindern und mangelnder Zeit liegt und das hat sehr wehgetan.
Ich weiß nicht, ob das jemand lesen möchte und Gedanken dazu hat, falls nicht, ist es immerhin eine Gedankenstütze für mich.
ich muss mich einfach mal ausheulen und brauche irgendwo Raum dazu. Anlass ist meine Mutter und ihre seltsame Krankheit – und akut ein sehr verstörendes Telefonat vom heutigen Tage, nachdem ich mich gefragt habe, wo meine Mutter hin ist und erstmal geheult habe.
Das Ganze geht eigentlich schon Jahre zurück, es startete mit Gangunsicherheiten. Meine Mutter ist klein und pummelig, wir haben uns also erst nichts dabei gedacht, wenn sie irgendwo beim Wandern eine Hand brauchte, bei höheren Stufen mit meinem Vater gemeinsam ging. Sie hatte schon immer ein eigenwilliges Gangbild mit kleinen Schritten und festen Armen, als würde sie marschieren.
Über die Jahre wurde es schlimmer. Sie strauchelte eines Winters so sehr auf dem Weihnachtsmarkt, schob es auf die schlechten Sichtverhältnisse. Sie besorgte sich eine Brille, die half aber nicht. Rückblickend haben es einige Leute schon länger beobachtet - eine Freundin, die im Altenheim arbeitet, diverse Krankenschwestern aus dem Umfeld... die kleinen Schritte, der unsichere Gang, das Festhalten beim Treppensteigen.
Ein Jahr später offenbarte sie uns unter Tränen, dass sie kaum noch gehen könne, dass ihr immer schwindelig sei. Wir konnten damals nicht vom Museum zum Restaurant spazieren, wir mussten das Auto holen. Das war Ende 2019, kurz danach kam Corona.
Die Behandlung war nun entsprechend schleppend. Es startete beim Neurologen und beim HNO, die Standards wurden abgeklopft - HNO-technisch alles okay, Nervenbahnen okay. Blutbilder und MRTs folgten. Sie war bei diversen Unikliniken in verschiedenen Spezialabteilungen. Die Schwindelambulanz fand nichts. Dann gab es den Verdacht auf MS. Es wurden weiße Flecken im Hirn gefunden, viele davon. Man gab ihr Cortison und Medikamente gegen MS - nichts half. Die Klinik meinte, wäre es MS, hätte irgendwas zumindest eine Veränderung zeigen müssen, das tat es aber nicht. Sie wurde stets nach zig Tests, MRTs, Lumbalpunktionen, Wissenstests, Augen-Ohren und sonstigen Tests entlassen. Die Wartezeiten zwischen den Terminen waren endlos.
Der Neurologe verordnete Physiotherapie, da geht sie bis heute hin und es hilft ihr. (Immerhin!)
Sie war bei der Humangenetikerin, die eine Mutation auf dem X-Chromosom fand. Der Verdacht fiel auf Fragile X Ataxie-und Tremor-Syndrom (Fragiles-X-assoziiertes Tremor-/Ataxie-Syndrom – Wikipedia) Das Syndrom ist recht neu und unbekannt – vor allen Dingen bei Frauen gibt es wenige Informationen. Laut Humangenetikerin kann es die isolierten Gangunsicherheiten aber eigentlich nicht erklären.
Lange Zeit hieß es dann eben: Multiple Sklerose. Liegt in der Familie, wird manchmal auch zusammen mit Fragile X diagnostiziert. Darauf konnten wir uns einstellen, okay.
Zeitgleich wurde meine Mutter aber auch „wunderlicher". Sie ist fahrig in Gesprächen, wechselt zusammenhanglos das Thema, geht auf nichts ein, was ich sage oder sagt auf einmal „Ach ja." Sie ruft nicht mehr an, sie reagiert im Familienchat auf fast nichts mehr. Die Kinder animieren sie bei Besuchen, sie macht zwar mit, aber es wirkt oft so teilnahmslos.
Es gab trotzdem gute Phasen – letztes Jahr im Urlaub sind wir stundenlang durch einen Nationalpark gewandert, wir haben ihr geholfen, mein Vater stützt sie – aber wir haben es gemacht. Da hatte ich Hoffnung, dass es eben alles „halb so wild" ist, dass wir damit leben können. Die Geburtstagsfeiern dieses Jahr waren fast wie immer, sie wirkte ausgeglichen, plauderte mit den Schwiegereltern und ich dachte: "Falscher Alarm, umsonst bekloppt gemacht".
Aber die Telefonate mit ihr wurden „komischer". Erst dachte ich, sie ist vielleicht auch schwerhörig, es fällt ihr schwer, sich auf Gespräche zu konzentrieren. Der Fernseher zu Hause läuft dauernd in unendlicher Lautstärke. Sie schaut viel Schrott, das war früher auch nicht so.
Die Besuche sind teilweise komisch geworden. Sie redet zusammenhanglos dazwischen, wirkt unkonzentriert, weiß nie, worum es geht. Irgendeiner erzählt was, sie kommt dazu, sagt: "Hm??" Wenn man ihr erklärt, worum es geht, schweift sie schon wieder ab. Das Problem ist in der Familie nicht selten, es ist ein Haufen durcheinander quatschender, lauter Frauen, die alle nicht verstehen, wovon der andere redet.
Trotzdem kam mir immer häufiger der Gedanke, ob diese fahrige, tüddelige Frau noch meine intelligente Mutter ist, die ich bis vor 10 Jahren noch hatte. Wir haben nächtelang gequatscht und geredet, ich konnte sie bei jeder Sorge anrufen. Sie war schon immer sprunghaft und teils völlig jenseits des Kontexts – schon vor 15 Jahren antwortete sie auf meine Aussage, dass ich mich einer schweren OP unterziehen muss, damit, dass die Daily Soap, die sie schaut, ja auch immer bekloppter wird. Als ich mich von meinem schwer depressiven Ex trennte, weil er mich terrorisierte, war ihre erste Antwort, wer jetzt mit ihr den Schimmelkäse essen würde, den sonst keiner mag und mit ihr über Planeten redet, was hier sonst keinen interessiert. Und als ich die Fehlgeburt hatte, meinte sie: "Wieso seid ihr denn traurig?" Man merkt: Wunderlich war sie schon immer. Aber es erreicht eine neue Qualität, die mir Angst macht. Keine Frage: Es gab immer seltsame Situationen. Aber ich bekam sie aufgelöst und hatte trotzdem in 95% der Fälle eine empathische, emotionale Mama. Wir waren immer wie beste Freundinnen, waren sooo dicke. Ich konnte ihr alles anvertrauen. Mittlerweile geht das nicht mehr, weil ich das Gefühl habe, es kommt nicht an.
Auslöser meines heutigen Postings ist ein Telefonat, was ich heute mit ihr führte. Erstmal vorweg: Wir haben Covid. Sie weiß es seit vorgestern. Meine Eltern haben uns nicht angerufen, was ich schonmal seltsam finde – man könnte sich doch mal erkundigen? Ich habe also angerufen und wollte erzählen.
Gespräch lief in etwa so:
„Hallo Mama, wie geht's euch?"
„Mir schlecht, deinem Papa wie immer."
"Gibts bei dir denn was Neues, dass es dir schlecht geht oder wegen deiner Krankheit?"
"Nee, wegen der Krankheit, heute ist nicht gut."
"Das tut mir sehr leid. Bei uns ist es auch nicht so gut, wir haben ja Corona und es geht uns nicht so gut."
„Ja, ich weiß."
„Ja, ist gar nicht schön, ich hatte Fieber und Schüttelfrost."
„Ach du Arme. Achja." – Stille in der Leitung.
Ich fragte, was los ist? „Ja ich weiß auch nicht, wo ich anfangen soll. Dein Vater ist bei seiner Rentenfeier, da bin ich mal gespannt, was er bekommt."
„Als Rente?"
„Nein, als Geschenk. Er kriegt doch heute ein Geschenk zum Abschied."
„Achso."
„Ja und ich habe 1000 Dinge im Kopf, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich muss noch Böden wischen und der Bofrostmann kommt auch noch. Es ist alles zuviel. Wenn dein Vater weg ist, muss ich richtig was schaffen. Aber mir ist so schwindelig den ganzen Tag." (Diese Überforderung wegen "gar nichts" hat sie schon ihr Leben lang. Als Kind wollte ich mal an einem Donnerstag ins Kino und sie sagte, das ginge nicht, weil sie da ihre Haare föhnen muss.)
„Ja Mama, vielleicht solltet ihr doch mal über eine Haushaltshilfe nachdenken"
„Nein, ich schaffe alles alleine, ich brauche keine Hilfe."
Es ging dann irgendwie seltsam weiter, sie sagt kurze Sätze, sie spricht teils verwaschen und sie schließt völlig zusammenhanglos mit: „Achja."
Dann hieß es, sie müsse jetzt aufhören, sie müsse ihren Bruder anrufen. (Das Telefonat ging bis dahin noch keine 5 Minuten).
Ich meinte, dass ich eigentlich angerufen hätte, weil ich ihr erzählen wollte, dass die Oma meines Mannes gestorben ist. Antwort:
„Das war ja zu erwarten."
„Wie bitte?"
„Ja sie war doch alt."
„Ja natürlich Mama, aber wir sind hier extrem traurig. Was ist heute los mit dir?"
„Wieso, was soll sein?"
„Du bist komisch. Ich rufe dich an, weil ich dir erzählen möchte, dass wir Covid haben, dass die Oma gestorben ist, wir sind echt erledigt. Und von dir kommt gar nichts."
„Ja, ist dein Mann denn traurig?"
„Natürlich ist er traurig, seine Oma ist gestorben!"
„Achja. Erzähl doch mal lieber was Lustiges von den Kindern!"
Ich meinte dann, was ich Lustiges erzählen soll. Wir kommen aus einer Phase mit Lungenentzündung, meinem Treppensturz mit Gehirnerschütterung, jetzt haben wir Covid und die Oma ist tot! Gerade ist es nicht soo lustig hier, es tut mir leid. Ich habe das ganz nett gesagt, nicht fies oder so.
Dann sagte sie: „Ach ja, ihr Armen. Aber am Geburtstag nächste Woche kommen wir dann doch kurz vorbei." Ich sagte: „Ich weiß nicht, ob das geht Mama! Wir müssen bis dahin erst wieder negativ sein. Ich habe total Angst, dass ich den 6. Geburtstag meiner Tochter nicht feiern kann, weil wir hier Covid haben!"
„Ach und ich dachte, ihr seid negativ." In dem Moment war ich fassungslos. Ich fragte sie, wie wir negativ sein sollen, wenn wir gestern einen positiven PCR-Test gemacht haben. Sie sagte: „Das weiß ich nicht, ich kenne mich mit Covid doch nicht aus." Sie wirkte komplett hilflos, sie tat mir leid.
Ich habe dann irgendwann geschaut, dass ich lieb und freundlich aus dem Telefonat rauskomme, habe nach meinem Vater gefragt, weil ich mit ihm reden möchte und mich lieb verabschiedet – und dann erstmal geheult. Ich hatte das Gefühl, ich rede mit einer alten Frau, nicht mit meiner Mutter. Sie ist erst Mitte 60. Was ist da bitteschön los?
Ich habe meinem Mann von dem Telefonat erzählt und ihm gesagt, egal, was man sagen möchte – das nicht normal. Wenn ich die Zusammenfassung lese, könnte es so anklingen, als hätte ich ihr Druck gemacht und sie hätte deshalb dicht gemacht. Aber so war es nicht – sie redet nur noch in kurzen Sätzen, zeigt null Empathie und sagt irgendwann „Achja."
Ich habe mich danach zum Thema beginnende Demenz kirre gegoogelt und Angst bekommen. Meine Mutter hat sich ihr ganzes Leben an alles erinnert, sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Sie hat immer eher zuviel, als zu wenig geredet. Geplaudert, referiert, was über Pilze und Pflanzen erzählt, mit mir Gruselgeschichten ausgetauscht, alles. Sie hatte zu allem eine Meinung, politisch, gesellschaftlich, zu meinen Freunden und Bekannten. Neulich habe ihr erzählt, dass der Vater einer Jugendfreundin gestorben ist, ihre Reaktion war auch bei Null.
Ich habe danach mit meiner Tante telefoniert, die solche Telefonate ebenfalls kennt und jede meiner Beobachtungen bestätigte – und die die Demenzsorge auch schon länger hat. Sie erzählte auch, dass ihr Mann schon länger nicht mehr mit zu den Familienfeiern wolle, weil er nicht ertragen könne, wie sich meine Mutter verändert habe in den letzten beiden Jahren. Er kann mit sowas nicht umgehen. Ich finde es heftig, dass es schon so weit gekommen ist, es ist definitiv keine Einbildung.
Dann habe ich mit meinem Bruder telefoniert, der uns nämlich kondoliert hatte und offenbar auch mit ihr gesprochen hatte – und er meinte, sein Telefonat mit ihr wäre ähnlich gewesen. Er sagte, dass er sich auch vorstellen könne, dass es ein starker depressiver Schub sei und dass meine Mutter vor jeder schlechten Nachricht einfach nur dicht mache, weil sie voll mit ihrer Krankheit sei – ich habe ja schon fast die Hoffnung, dass das sein könnte, lieber Depressionen, als Demenz.
Ich habe neulich alle Befunde bei meinen Eltern fotografiert und ich frage mich, warum auf dieses Thema noch niemand gekommen ist. Tatsächlich ist nämlich in einem der Befundberichte ein Frühtest auf Demenz „auffällig". Dennoch wird es nirgendwo aufgegriffen. Ich habe fast den Verdacht, dass eine Hausfrau ohne großartige Schulbildung, die etwas tüddelig wirkt, einfach durchs Raster fällt – sie ist halt kein Gehirnchirurg, dessen mentale Leistung nachlässt. Und keiner der Ärzte kennt sie von früher. Sie wirkt nun halt einfach unkonzentriert, etwas einfältig, vielleicht auch „schlichter"- aber das war sie halt nie. Ich schließe auch nicht aus, dass die Ärzte etwas in der Art schon mit ihr besprochen haben und sie es abgetan hat – stur ist sie schon immer und sie macht komplett dicht, wenn sie sich angegriffen fühlt. Ich klammere mich insoweit an die Hoffnung, dass auch der auffällige Demenzfrühtest nur daher resultiert, dass sie den Arzt blöd fand – das ist durchaus denkbar.
So oder so, ich habe eine Scheißangst. Es kommt im Moment eh schon alles zusammen und ich könnte soviel mehr schreiben. Ich würde gerne mit meinem Vater darüber sprechen, befürchte aber, dass er alles abblockt – es heißt bei allem, „Du weißt doch, wie deine Mutter ist!" oder „So war sie doch schon immer!" Und in mir nagt die Angst, dass eben gar nichts „wie immer" ist.
Letztendlich kann es natürlich auch sein, dass meine Mutter durch ihre eigenen Sorgen und Ängste so ist – sie ist schon immer depressiv, hat Angststörungen, Verlustangst, was meinen Vater und uns Kinder angeht – und dazu diese quasi ungeklärte Diagnose, das macht ihr lähmende Angst. Außerdem bekommt sie diverse Medikamente. Wenn ein Mensch vollläuft vor Stress und Sorge, kann es natürlich sein, dass er fahrig wird und keine Informationen mehr aufnehmen kann. Ich klammere mich an die Idee, dass es sowas ist. Aber was, wenn nicht?
In mir ist ein ziemlicher Trauerprozess angestoßen, schon länger, nicht erst seit heute. Ich hätte mir gerne zwei gesunde Großelternpaare für meine Kinder gewünscht, ich bin teilweise wütend darauf, wie sehr die Kinder auf meine Schwiegermutter abfahren und wie wenig meine Kinder von meiner Mama haben. Ich hätte sie gerne so zurück, wie sie früher war.
Meine Tante sagte heute auch, dass sie ihre Schwester von früher vermisst und dass sie ihr fehlt. Das war ein großer Trost, zu wissen, dass man nicht alleine ist mit dem Gefühl. Neulich habe ich geträumt, dass ich mit meiner Mutter so spreche wie früher und dass wir darüber lachen, dass wir in den letzten Jahren wegen der Kinder gar keine Zeit mehr dazu hatten, so unbefangen miteinander zu sprechen. Und dann bin ich aufgewacht und mir war klar, dass es nicht an den Kindern und mangelnder Zeit liegt und das hat sehr wehgetan.
Ich weiß nicht, ob das jemand lesen möchte und Gedanken dazu hat, falls nicht, ist es immerhin eine Gedankenstütze für mich.